Theoretisch-methodische Zugänge zu kollektiver Erinnerungskultur und individuellen Identitätskonstruktionen – russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog

Theoretisch-methodische Zugänge zu kollektiver Erinnerungskultur und individuellen Identitätskonstruktionen – russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog

Organisatoren
Anna Flack, Universität Osnabrück; Christina Lokk, Universität Hildesheim; Julia Person, Universität Erfurt; Sara Reith, Universität Mainz; Natalja Salnikova, Universität Freiburg; Andrey Trofimov, Universität Marburg
Ort
Sankt Petersburg
Land
Russian Federation
Vom - Bis
14.09.2016 - 16.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Andreeva, Universität Köln / Volkshochschule in Freising; Elena Khomyak, Universität Hamburg

Sechzehn Nachwuchswissenschaftler aus Deutschland und Russland beschäftigten sich mit der historischen Aufarbeitung des zweiten Weltkriegs – einem Thema, dass sowohl im russisch- als auch im deutschsprachigen Raum eine besondere soziokulturelle Relevanz aufweist. Der Fokus lag dabei auf dem Phänomen der kollektiven Erinnerungskultur und den individuellen Identitätskonzepten innerhalb einer Gemeinschaft. Der besondere Stellenwert der geschichtlichen Entwicklung St. Petersburgs im Kontext der deutsch-russischen Verflechtung auf der kulturellen und politischen Ebene legte nahe, die genannte Thematik am Beispiel der St. Petersburger Deutschen zu behandeln.

Der Workshop wurde als eine Fortsetzung eines im Jahre 2015 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz realisierten Workshops zu nationalen Identitätskonstruktionen in Deutschland und Russland konzipiert. Im Vordergrund standen erneut theoretisch-methodische Aufbereitungsmodalitäten der wissenschaftlichen Fragestellungen, wobei unter anderem die Perspektiven unterschiedlicher nationalstaatlich geprägter Wissenschaftssysteme einbezogen werden konnten. Die Teilnehmer waren Studenten, Doktoranden und junge Wissenschaftler aus den Geschichts-, Kultur-, und Literaturwissenschaften.

Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Organisationsteams und der weiteren Teilnehmer ermöglichte es während des Workshops, die von deutschen und russischen Wissenschaftlern aufgestellten, teilweise konträren Thesen zu kollektiver Erinnerungskultur und individuellen Identitätskonstruktionen sowie die daraus resultierenden Problemstellungen aus unterschiedlichsten fachlichen Blickwinkeln zu betrachten und zu hinterfragen.

CHRISTINA LOKK (Hildesheim) und SARA REITH (Mainz) eröffneten die Veranstaltung mit Überlegungen zu Erinnerungskultur und lokalem Gedächtnis in den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen von Deutschland und Russland. Sie stellten Herangehensweisen der westeuropäischen ‚Klassiker‘ (Halbwachs, Nora, Assmann) den aktuellen russischsprachigen Beiträgen (Rutkevic, Makarov, Bragina) zur kollektiven Erinnerung gegenüber, die einen ersten Ausgangspunkt für den Dialog der Wissenschaftssysteme darstellten.

EKATERINA MELNIKOVA (Sankt Petersburg) explizierte diese Überlegungen am Beispiel von sowjetischen Erinnerungsnarrativen von Bewohnern Kareliens. Diese Region wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie an die UdSSR überging und die finnischen Ortsbewohner aufgefordert wurden die Sowjetunion zu verlassen, durch eine groß angelegte politische Kampagne neu besiedelt. Melnikova zeigte unter anderem auf, wie Geschichte in den lokalen Museen und Kulturinstitutionen präsentiert wird und ob diese die komplexen und widersprüchlichen Vorstellungen und Fragen der Auswanderer/Einwanderer, Heimischen und Zugezogenen widerspiegelt.

Um den Workshopcharakter zu betonen, konnten sich die Teilnehmer anschließend drei Gruppen mit spezifischen theoretisch-methodischen Schwerpunkten zuordnen. Die theoretisch erarbeiteten Grundlagen wurden bei einem Besuch der Stiftung „Deutsch-russisches Begegnungszentrum“ in Sankt Petersburg im Feld erprobt. Die Stiftung versteht sich als eine Vermittlungsinstanz zwischen der deutschen und russischen Kultur, beschäftigt sich aber insbesondere mit der Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit. Neben laufenden sozialen Projekten bietet sie Platz für wechselnde Ausstellungen, Lesungen und Seminare.

Nach einem kurzen Überblick über die Tätigkeitsbereiche des Begegnungszentrums im Sinne eines Mehrspartenhauses, den die Leiterin der Stiftung, ARINA NEMKOVA (Sankt Petersburg), präsentierte, diskutierte die wissenschaftliche Projektkuratorin IRINA TSCHERKASJANOVA (Sankt Petersburg) mit den Teilnehmern über Erinnerungskultur in Wissenschaft und Praxis. Sie legte nahe wie wichtig und schwierig es sei, Erinnerung zu visualisieren und in Form von Ausstellungen wachzuhalten. Auf Schwierigkeiten stieße man schon, wenn Deutsche aus St. Petersburg einerseits als Opfer und andererseits als mögliche Kollaborateure betrachtet werden könnten. Da der Workshop die Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerungskultur aus der Sicht unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen anstrebte, wurde auch bei dem Treffen in den Räumlichkeiten der Stiftung in den drei Methoden-Gruppen gearbeitet.

Das Erkenntnisinteresse der verschiedenen Arbeitsgruppen richtete sich einerseits an die Rolle der von der Stiftung produzierten Medieninhalten für die diskursive Identitätskonstruktion. Themenauswahl, Perspektivierung von bestimmten Ereignissen, sprachliche Darlegung und Visualisierung konnten unter Berücksichtigung der diskurslinguistischen, kulturwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Perspektive beleuchtet und reflektiert werden.

Andererseits war die Gruppe „Museale Inszenierung – teilnehmende Beobachtung“ an der Ethnographie der Ausstellung des Begegnungszentrums interessiert. Als kulturelle Institutionen sind Museen und Begegnungszentren Archive des kulturellen Gedächtnisses par excellence. Wie die kulturelle Identität der jeweiligen Nation Deutschland/Russland allgemein bzw. wie die der Russlanddeutschen im Speziellen in Deutschland und Russland ausgestellt und vermittelt wird – war die Frage, die es zu beantworten galt. Zudem wurde die ‚Teilnehmende Beobachtung‘ als Methode für die Ausstellungsinterpretation und reflexive kuratorische Praxis diskutiert.

Die dritte Gruppe hat sich schließlich dem Thema „Oral History: Theorie und Praxis mündlicher Erhebungen“ gewidmet. Der inhaltliche Schwerpunkt lag dabei auf den Verfahren und Techniken zur wissenschaftlichen Analyse. Es wurden die wichtigsten Aspekte der Interviewvorbereitung, Interviewführung und Interviewfragen erläutert. Die Teilnehmer erhielten außerdem die Gelegenheit, eigene Interviews mit St. Petersburger Deutschen unterschiedlicher Generationen zum Thema ihrer Wahl durchzuführen. Die erhobenen Daten konnten im Anschluss ausgewertet und im Hinblick auf ihre Komplexität besprochen werden. Für diese Gruppe standen einerseits die forschungspraktischen Interviewerfahrungen in einer Fremdsprache im Vordergrund. Andererseits reflektierte die Gruppe die Positionierung der Interviewpartner als Vertreter bestimmter Gruppen innerhalb des Begegnungszentrums. Die Forschung/Arbeit der Nachwuchswissenschaftler im DRB rief auch Interesse seitens der aktiven an das DRB angebundenen Seniorengruppe hervor, die sich in bestimmten Zeitabständen zum moderierten Erinnern trifft. Zwei Vertreten dieser Gruppe nahmen die Diskussion auf und teilten selbst ihre Eindrücke mit.

Die sich anschließende plenare Phase des dreitägigen Workshops diente der allgemeinen Rekapitulation der Diskussionsergebnisse und ermöglichte einen regen interdisziplinären und internationalen Austausch. Hierbei wurden die Prägungen der Forschenden durch nationale Diskurse ihrer Zugehörigkeit zu einer internationalen Wissenschaftscommunity gegenüber gestellt. Einen Schwerpunkt der Diskussion stellte das Bild des Wissenschaftlers dar, der sich auf einem Spektrum zwischen wertfreien Beschreibungen sozikultureller Phänomene und der Formulierung von Urteilen Handlungsempfehlungen bewegen kann. Die Veranstaltung fand auf Russisch und Deutsch statt und ermöglichte es den Nachwuchswissenschaftlern, sich nicht nur in der jeweiligen Fremdsprache im wissenschaftlichen Dialog zu üben, sondern sich auch mit den in der Sprache verankerten Erinnerungsmodi und Ausrücken auseinanderzusetzen.

SERGEJ STHYRKOV (Sankt Petersburg) referierte abschließend über seine Forschungen im Gebiet Pskow zum lokalen Gedächtnis über die deutsche Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Er arbeitete verschiedene Narrative heraus, die sich diesem speziellen Kontext konstituierten. Sthyrkov berichtete von seinen Feldforschungen, während derer er das Bild des „Deutschen“ aus der Perspektive der unter der Besatzung leidenden Bevölkerung untersuchte. Anders als den „Faschisten“ gänzlich ohne menschliche Züge sahen die Bewohner des Pskowsker Gebiet in vielen Besatzern trotz der Kollektivverachtung durchaus Individuen und hatten zum Teil sogar Mitleid mit den Soldaten. Kollaborateure freilich gab es dabei, so das Narrativ nach Sthyrkov, nie im eigenen Dorf, sondern immer nur bei den anderen.

Im Ganzen bot der Workshop Nachwuchswissenschaftlern ein Format, sich mit konkreten theoretischen und methodischen Fragen an so einem geschichtsträchtigen Ort auseinanderzusetzen und durch die gemeinsam produzierte Arbeit/Fragen zu vernetzen.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
EKATERINA MELNIKOVA (Sankt Peterburg): „Die Pragmatik des Gedächtnisses im lokalen Maßstab: Sowjetische Auswanderer auf dem Gebiet des ehemaligen Finnisch-Kareliens“

Gruppenarbeit

Medieninhaltsanalyse
Moderatoren: JULIA PERSON (Erfurt) /; SARA REITH (Mainz)

Museale Inszenierung – teilnehmende Beobachtung
Moderatoren: NATALJA SALNIKOVA (Freiburg) / ANDREY TROFIMOV (Marburg)

Oral History, Interview
Moderatoren: ANNA FLACK (Osnabrück) / CHRISTINA LOKK (Hildesheim)

Stiftung „Deutsch-russisches Begegnungszentrum“ - Rundtischgespräch

IRINA TSCHERKASJANOVA (Sankt Petersburg), Gespräch mit verschiedenen Gästen

Theoretisch-methodische Reflexion der angewandten Methoden im deutsch-russischen Spannungsfeld im Plenum

Abschlussvorlesung

SERGEJ SHTYRKOV (Sankt Petersburg): „60 Jahre nach der deutschen Okkupation: lokale Gedächtniskultur“.


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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